Schuld und Sühne

Dr-manfred-becker-huberti-9H1A0474Nach dem Ende der Verantwortung

Der Mensch ist ein freies Wesen. Er ist Urheber seiner Handlungen und deshalb auch für diese verantwortlich. Als mündiges Subjekt ist er deshalb schuldfähig: Er muss geradestehen für das, was er getan oder unterlassen hat. Genau diese weit verbreitete Ansicht wird seit einiger Zeit angezweifelt. Je mehr die moderne Wissenschaft den Menschen als ein durch Gene, Umwelt, das Unbewusste und Hirnfunktionen bedingtes und bestimmtes Wesen erkennt, desto fragwürdiger wird die These, dass der Mensch für all sein Tun verantwortlich sei. Das diesjährige Thema des 18. Philosophikums in Lech am Arlberg (17. – 21.09.2014) griff auch diesmal wieder ein brennendes Thema auf.

Schuld-Verschiebungs-Strategie

In die Grundfragen der angesprochenen Thematik leitete am 17.09. der wissenschaftliche Leiter der Veranstaltung, der Wiener Philosophieprofessor Konrad Paul Lissmann ein, indem er diverse Blickwinkel auf die Materie eröffnete. Dabei scheute er auch nicht profilierte Thesen, wie etwa, dass der moderne Mensch ein „Verantwortungskünstler und Schuldverschiebungsstratege sei“, der, indem er die Schuld der eigenen Kultur benennt, sich von seiner persönlichen auch schon wieder distanziert.
Als zweiter Referent folgte der ehemalige österreichische Bundesminister für Wissenschaft und Forschung Karlheinz Töchterle, Professor für Klassische Philologie an der Universität Innsbruck. Er zeichnete in freier Rede den in Fragen von Schuld und Sühne zentralen antiken Mythos von Ödipus wie auch seine Rezeptionsgeschichte, insbesondere die berühmt gewordene Deutung von Sigmund Freund nach, und unterstrich damit die Zeitlosigkeit so mancher moralischen Fragestellung.

Dostojewski: Schuld und Freiheit

Das erste Referat am 18.09. illustrierte die Komplexität der Frage von Schuld und Verantwortung in sehr anschaulicher Weise, widmete sich die Vortragende Ekaterina Poljakova, Privatdozentin für Philosophie an der Universität Greifswald, doch „Dostojewskis Idee der Verantwortung“ und damit einem Autor, der mit seinen tiefgreifenden psychologischen Romanen in die Weltliteratur einging. In Analyse seiner beiden Werke „Verbrechen und Strafe“ (vormals übersetzt mit „Schuld und Sühne“ – Titel des heurigen Philosophicums) sowie „Die Brüder Karamasov“ drang sie in die moralischen Dimensionen der Welt Dostojewskis vor, die voll von Widersprüchen und Konflikten, nicht nur zwischen den Figuren, sondern auch zwischen deren Wünschen und Ideen sowie ihren Taten ist. Laut Poljakova sind die Protagonisten, von ihren Überzeugungen getrieben, quasi zur Tat verdammt und leiden bzw. zerbrechen nicht an der Unmoral ihres Handels, sondern an deren tief empfundenen Unfreiheit.

Moralische versus soziale Verantwortung
Mit kulturellen Grundlagen von Moral setzte sich anschließend Maria-Sibylla Lotter, Professorin für Ethik und Ästhetik an der Ruhr-Universität Bochum, auseinander. In ihrem Referat stellte sie dem von der christlichen Tradition geprägten Schuld-Modell, das sie als „vorherrschende Ideologie moralischer Verantwortung“ bezeichnete, die „soziale Praxis sozialer Verantwortung“ gegenüber, worunter sie unter anderem die Kultur einer angemessenen Reaktion auf Verletzung oder Missachtung anderer versteht. Während das bei uns dominierende Schuldverständnis den Täter in den Mittelpunkt rückt, ihn unter dem Postulat der freien Urheberschaft seiner Tat, auch wenn diese unmoralisch ist, auch noch überhöht, fordert der von ihr skizzierte Umgang mit Schuld, der sich in vielen nicht-christlichen Kulturen findet, insbesondere Feingefühl, wobei das Opfer und die moralische Verpflichtung zur Kompensation in den Vordergrund treten.

Auseinandersetzung mit der Schuld

Am Nachmittag las die Philosophin Katharina Lacina, nach einer kurzen Einführung, aus dem Buch „Der Hauslehrer“ des Züricher Philosophen Michael Hager, in dem die damals großes Aufsehen erregende Geschichte des 23-jährigen Jurastudenten Ferdinand Dippold geschildert wird. 1903 wurde der als Hauslehrer Tätige in Bayreuth angeklagt, nachdem er einen Zögling zu Tode misshandelt hatte. Während Dippold sich damit rechtfertigte, dem Jungen das Laster der Masturbation auszutreiben, die damals als moralisch wie auch medizinisch höchst bedenklich gesehen wurde, kehrte sich das sexualmoralische Verdikt der Öffentlichkeit im Laufe des von Medienhetze begleiteten Prozesses gegen ihn.
Noch betroffener machte der Vortrag von Michael Schefczyk, Professor für Praktische Philosophie an der Universität Lüneburg, der die zentralen moralischen Implikationen eines Schlüsselwerks des großen deutschen Philosophen Karl Jaspers thematisierte. In „Die Schuldfrage“ hatte dieser bereits 1946 Stellung zum Umgang der Deutschen mit ihrer historischen Schuld durch die Verbrechen der Nazi-Zeit bezogen, wobei die differenzierte, doch nichtsdestoweniger kompromisslose Argumentation und Wertung Jaspers mit zum Selbstverständnis der BRD beigetragen haben dürfte. Dem mangelnden, ja größtenteils völlig fehlenden Schuldempfinden von Akteuren des „deutschen Verbrecherstaates“, darunter KZ-Kommandanten, auf der Spur, schlug Schefczyk eine Brücke zur Gegenwart, indem er betonte, „dass das Verständnis von persönlicher Verantwortung auf den Stand moderner, hochkomplexer Gesellschaften gebracht werden muss“. Umso dringlicher, als man das jetzige Zeitalter als eines „nach der Verantwortung“ verstehen könnte.
Globalisierte Verantwortung und Verstrickungen

Der Samstag wurde eingeleitet mit dem Referat von Barbara Bleisch, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ethik-Zentrum der Universität Zürich sowie Redakteurin und Moderatorin der „Sternstunde Philosophie“ des Schweizer Fernsehens. Unter dem Titel „Mitgegangen – mitgehangen? Verantwortung für globales Unrecht“ gab sie einen Überblick über die diversen Thesen hinsichtlich der moralischen „Verstrickungen“ in bedenkliche Verhältnisse oder Entwicklungen, sei es als wirtschaftlicher Akteur oder „bloßer“ Konsument. „Verantwortlich ist nicht nur wer vorsätzlich, sondern auch, wer fahrlässig handelt“, verwies sie zum Beispiel auf die Notwendigkeit einer internationalen Institutionalisierung des Sorgfaltsprinzips.
Ebenso pointiert wie profiliert bezog anschließend der bekannte deutsche Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer gegenüber Entwicklungen des digitalen Zeitalters Stellung. Zunächst illustrierte er das „Shifting-Baseline-Syndrom“, welches das Phänomen verzerrter und eingeschränkter Wahrnehmung vom Wandel (ob des Klimas, des technischen Fortschritts oder gesellschaftlicher Verhältnisse) bezeichnet, an einem historischen, betroffen machenden Beispiel: Hätte die Deportation der Juden schon kurz nach der Machtübernahme des Nazi-Regimes 1933 begonnen, wäre zumindest bei einem Teil der Bevölkerung moralische Empörung wohl nicht ausgeblieben. Nur acht Jahre später: Stillschweigen, wenn nicht Akklamation. Trotz der Allmacht des totalitären Regimes gab es jedoch kleine soziale Netze, „Residuen der Privatheit“, die für Verfolgte ein Überleben, auch Widerstand ermöglichten. Und was lässt sich daraus bezüglich des „Totalitarismus“ der dominierenden IT-Konzerne und der Mitmachgesellschaft ableiten?

Welzers deutliche Mahnung angesichts des (uns allen größtenteils unbewussten) gesellschaftlich-sozialen Wandels in neuester Zeit löste höchst kontroverse und heiße Debatten aus. Umso gelegener kam das folgende Referat von Ludger Heidbrink, Professor für Praktische Philosophie an der Universität Kiel, das unter anderem Licht in die „Diffusion der Verantwortung“ brachte. In Zeiten steigender Verantwortungsanforderungen und der Entgrenzung des Verantwortungshorizonts, wie wir sie heutzutage erleben, so Heidbrink, steigt auch die Verantwortungsabwehr. „Der Liberalismus begünstigt und fördert die Flucht aus der Verantwortung.“ Im Rahmen seines differenzierten Überblicks über Strategien, wie mit – vermeintlicher und echter – Verantwortung umgegangen wird, schälte er schließlich die Begriffs-Opposition gerechtfertigte Unverantwortlichkeit einerseits und die ungerechtfertigte Verantwortungslosigkeit andererseits heraus

Verantwortung – kein Naturphänomen

Unter anderem Blickwinkel, doch den Vortrag von Heidbrink perfekt ergänzend, unterzog beim zweiten Referat des Samstag Nachmittags Reinhard Merkel die Frage der individuellen Verantwortung, genauer gesagt der Schuldfähigkeit einer Analyse. Dabei bot der Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg, der in deutschen Medien als streitbarer Kommentator aktueller politischer Fragen bekannt ist, sozusagen eine kompakte Einführung in die Rechtsphilosophie, insbesondere was das vieldiskutierte Problem der Willensfreiheit als Grundlage des Schuldvorwurfs betrifft. Nachdem er ein Panorama der diversen Standpunkte in Bezug auf „die Opposition“ Willensfreiheit versus Determinismus entwickelt hatte, lautete ein Fazit: Die Naturwissenschaften können das „Freiheitsproblem“ nicht lösen, weshalb dieses den Philosophen überbleibt. Wieder eine ideale thematische Brücke hin zum folgenden Tag.

„Nachdem Reinhard Merkel aus rechtsphilosophischer Sicht die Fragen von Willensfreiheit und Verantwortlichkeit dargestellt, vor allem aber auch eine Einordnung der neurobiologischen Diskussion in diese Problematik vorgenommen hat, werde ich letztere heute etwas hintanstellen“, leitete Henning Saß, prominenter Facharzt für Psychiatrie sowie forensisch-psychiatrischer Gutachter, am Sonntagvormittag seine Ausführungen ein. In Konzentration auf die Psychopathologie, gab er zunächst einen historischen Abriss über dieselbe und ging dabei insbesondere auf Karl Jaspers als einen von deren Vätern ein. Auf diesem fußt auch eine grundlegende Unterscheidung: zwischen Erklären als naturwissenschaftlicher Ansatz (Bildgebung, Molekularbiologie, Wirkung der Medikamente etc.) und Verstehen als der geisteswissenschaftliche Aspekt, durch das Gespräch mit und Einfühlen in den Klienten. Besonderes Interesse fanden die Beispiele von Saß aus seiner Praxis als forensischer Gutachter, wie zum Beispiel den aktuellen Fall des sogenannten „Autobahnschützen“ in Deutschland.

Im Anschluss übernahm schließlich mit Gerhard Roth einer der führenden Hirnforscher unserer Tage das Wort. Anschaulich und auch für Laien verständlich, gab er faszinierende Einblicke in sein Forschungsfeld und passend zu den vorangegangenen Referaten neurobiologische Erklärungen für psychopathologisches Verhalten. Seine Erläuterungen reichten vom Motiv-Determinismus (für jede Tat gibt es einen Grund) über die Beschreibung eines klassischen Psychopathen anhand der Person Adolf Hitlers bis hin zu der Erkenntnis, dass positive Bindungserfahrungen noch am ehesten psychopathologische Tendenzen dämpfen können. Gerhard Roths spannender Vortrag war ein würdiges Finale und krönender Abschluss des 18. Philosophicum Lech.

Wie üblich werden im nächsten Jahr alle Referate in einem Tagungsband vorliegen.
Das 19. Philosophicum Lech 2015 befasst sich vom 16. – 20. September mit dem Thema: „Neue Menschen! Bilden, optimieren, perfektionieren.“

Manfred Becker-Huberti

Foto: http://www.becker-huberti.de/

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