Einkaufstempel. Eine Massenkultur für vermeintliche Individuen

MyZeil_FassadeDer Betrachter beobachtet eine große Menschenmenge, die sich über die Frankfurter Zeil schiebt. Wie in einem Ameisenhaufen schlängeln sich zehntausende Menschen um Hindernisse und größere Ansammlungen herum, eilen in Geschäfte und kommen schwer beladen wieder hinaus. Aber natürlich sind es keine Ameisen, sondern alles Individuen, die ihren persönlichen, ganz eigenen Einkaufsbedürfnissen frönen. Oder?

Modische Individuen

Die Individualität kann der Betrachter besonders gut im Winter sehen, wenn alle Menschen in Jacken und Mäntel eingehüllt sind. Schwarz-, braun und Blautöne dominieren, auch bei Frauen, die in den Nullerjahren hellere Farben trugen. Ergänzt der Betrachter seine Aussicht, indem er in die Geschäfte hineinblickt, so bietet sich ihm genau diese Farbkombination zum Einkauf da. Wer eine Hellgrüne Jacke sucht, der streift lange durch Deutschlands größte Einkaufsstraße. Das gleiche Phänomen ist auch bei Brillen zu beobachten, die alle bis vor kurzem einen dicken „Streberrand“ hatten und nun etwas zurückgenommener daherkommen. Diese „Individualität“ bezieht sich aber nicht nur auf die Mode, die man kaufen kann. In den letzten beiden Jahren sind in den Gesichtern der Männer Bärte gesprossen, auf die selbst Kaiser Friedrich im ausgehenden 19. Jahrhundert stolz gewesen wäre.

Dennoch sind die meisten Menschen überzeugt, sehr individuell gekleidet zu sein. Die Lösung für diesen Widerspruch kann in zwei Aspekten gefunden werden. Zum einen in der mangelnden Unterscheidung von Inhalt und Verhalten.

Sie skandieren: „Wir sind alle Individuen“

In Monty Pythons Film „Das Leben des Brian“ ruft der Hauptcharakter Brian einer Gruppe folgsamer Jünger zu „Ihr seid alle Individuen“ und die Zuhörer bestätigen im Chor „Wir sind alle Individuen.“ Die Satire zeigt, wie die Leute zwar den Inhalt zur Kenntnis nehmen und ihn auch folgsam wiedergeben, ihn aber nicht geistig durchdringen und ihr Verhalten nicht danach ausrichten. Wie im Film, so gehen auch heute die meisten Menschen sehr fest davon aus, Individuen zu sein, ohne sich aber darüber Gedanken zu machen, was das praktisch für ihr Leben bedeutet. Natürlich kann man sich auch ganz individuell dafür entscheiden, kein Individuum mehr zu sein und einfach im Pulk einem Führer hinterherzulaufen. Dann geht aber die Individualität verloren, die man sich gedanklich noch zuschreibt.

Viele Angebote scheinen Individualität zu Fördern

Zum anderen wird dieser Haltung den meisten Menschen durch ein viele Angebote an Waren und Ideen erleichtert. Wer durch die großen Säle der Zeil wandert, der hat die Qual der Wahl unter vielen Produkten auswählen zu können. Dass diese Waren alle ähnlichen Mustern und Farbgebung folgen, Modetrends also, stört nicht weiter. Während in Gesellschaften mit knappen Angebot und strengen, staatlichen Regelungen die Uniformität jedem vor Augen steht, verbirgt sich das gleiche in den westlichen Kauftempeln besser.

Ein Trugschluss

Es ist der Trugschluss der modernen Gesellschaft, die Menschen seien alle Individuen, nur weil sie aus einem großen Angebot auswählen könnten. Zum einen kommt es darauf an, aus welchen Möglichkeiten ich auswählen kann, zum anderen, wie ich die Auswahl nutze. Geht es nach dem Beobachter auf der Zeil, so sieht es schlecht aus mit der Individualität.

Maximilian Röll

Foto: WikiCommons SB68Manm

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