Das Sein vor dem Aufstehen

Jeden Morgen beim Aufwachen steht die Frage im Raum, was war vor dem Aufwachen? Es ist schon irgendwie erstaunlich, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt das Bewusstsein beginnt. Man weiß: Mich hat es die ganze Nacht gegeben, obwohl ich nichts davon mitbekommen habe. Woher kann ich wissen, dass ich derjenige bin, der abends die Augen geschlossen hat und sich in das Reich des Unbewussten begeben hat?

Thomas Holtbernd

Nacht und doch Helle Foto: hinsehen.net

Der Schlaf ist die kleine Tochter des Todes. Deshalb können einige Menschen sich nicht fallen lassen und schlafen; sie haben Angst vor diesem Zustand, er gleicht zu sehr dem Tod, also dem Nicht-Sein. Und wenn man den Zahlen, die in Umlauf gebracht werden, glauben darf, so ist die Zahl derer nicht klein, die Einschlaf- und Durchschlafstörungen haben. Man kann es auf die Überbelastung zurückführen, auf Lärmquellen, die auch in der Nacht keine Ruhe geben. Einige Menschen können nicht einschlafen, weil sie Schmerzen haben, andere sind von Gedanken verfolgt, die sie nicht abschalten können. Depressionen sind meist mit Schlafstörungen verbunden. Nicht wenige Menschen zwingen sich mit Alkohol oder Drogen in den Schlaf. Wer nicht schlafen kann, fühlt sich tagsüber wie in einer grauen Wolke.

Erholung als Zeit fürs Schlafen

Urlaub, Ferien, Feiertage oder generell freie Tage bringen vielen Menschen mit dem Wunsch in Verbindung, ausschlafen und lange im Bett liegen bleiben zu können. Langes Schlafen wird mit tiefer Erholung assoziiert. Die Zeit für das Schlafen wird dabei dem Tag, der hellen Tageszeit abgetrotzt. Dafür wird die Nacht zum Tag gemacht. Ein tiefer Schlaf kann für die Genesung von einer Krankheit hilfreich sein. Und in den Heiltempeln der Antike wurde den Kranken ein Trunk gereicht, durch den sie in den Gesundheitsschlaf versetzt wurden. Im Schlaf wurden sie dann von den Göttern geheilt. Manche haben auch einfach nur schöne Träume gehabt und wachten dann fröhlicher auf.

Die Tiefe des Menschseins

Es ist eigentlich nicht verstehbar, dass es einen Zustand wie den des Schlafes gibt. Natürlich lässt sich beschreiben, was im Schlaf passiert, welche Schlafphasen es gibt, was das Gehirn tut, während wir schlafen und wie Träume zu erklären sind. Doch während der Mensch schläft, ist er willenlos, er kann nicht handeln und ein bewusstes Ich scheint nicht zu existieren.  Ganz in der Tiefe des Körpers scheint es eine Instanz oder eine Idee zu geben, die mit dem Wesen identisch ist, das am nächsten Morgen aufwacht. Doch diese Instanz ist dem Bewusstsein entzogen. Beim Aufwachen kann man sich nur wundern, dass sich nicht viel verändert hat und alles vertraut erscheint. Manchmal, wenn man an einem anderen Ort ist und sehr tief geschlafen hat, kann es passieren, dass alles fremd ist und man eine Weile benötigt, um ganz zurück ins Bewusstsein zu kommen. Solche Momente sind sowohl Augenblicke der Unruhe und doch gleichzeitig die Erfahrung von Gewissheit, denn man hat ja nur das Bedürfnis, sich wiederzufinden. Möglicherweise stellt man sich so auch den Tod vor, man schläft ein und findet sich beim Aufwachen in einer völlig fremden Welt wieder, aber man ist es immer noch.

Zwecklosigkeit und Unbewusstheit

Im Schlaf kommen zwei Phänomene zusammen. Der Mensch tut nichts, er ist nicht produktiv. In einer Leistungsgesellschaft ist eine solche Zeitverschwendung fast schon skandalös. Aufputschende Drogen wie Kokain, Amphetamine und Crystal Meth haben daher Konjunktur. Weichere Methoden, um den Schlaf zu verkürzen, sind der Powerschlaf oder Entspannungsmethoden, die zur körperlichen Erholung führen und weniger Schlaf nötig machen. Mit der Zwecklosigkeit des Schlafs geht der unbewusste Zustand einher, der in gewisser Weise eine Erholung vom anstrengenden Sorgen um das eigene Ich befreit. Im Schlaf schaut der Mensch in eine Dimension seines Seins, die von der Sorge um den Erhalt des Ichs und seines Körpers befreit ist. Der gesunde Schlaf ist deshalb so erholsam, weil er gerade von der Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung und Rekreation abgehoben ist.

Ein Gedanke zu “Das Sein vor dem Aufstehen

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